"ANSCHNALLEN!"
Musikdramaturg Guido Hackhausen
im Gespräch mit Regisseur Ulrich Peters

GH: Offenbach schrieb „Pariser Leben" als Auftragswerk für die Weltausstellung und Hommage an seine Heimatstadt, also quasi als kulturelles Beiprogramm für ein ökonomisches Großereignis - oder steckt doch mehr dahinter?

UP: Mit „Pariser Leben" ist Offenbach ein Wagnis eingegangen. Während er bislang die gesellschaftlichen Zustände aus der Perspektive des mythologischen Sujets parodierte, wagte er sich nun direkt in die Gegenwart. „Pariser Leben" ist ganz Zeitstück - eine überspitzte Darstellung der Lebensrealitäten im Second Empire. Offenbachs Publikum, das ja keineswegs dem Kleinbürgertum entstammte, sondern eher in der gehobenen Mittel- und Oberschicht des Großbürgertums und des niederen Adels zu finden war, bekam im Theater den Spiegel vorgehalten. Auf der Bühne erblickte es eine zunehmend nivellierte Gesellschaft, in welcher die Absurdität von Standesunterschieden durch die Maskerade der Domestiken entlarvt wird - das Zimmermädchen wird zur Admiralsgattin, der Schuster zum Major. Das ist durchaus republikanisch gedacht, somit auch ein Stück weit subversiv. Die Spielorte deuten ebenfalls ganz auf das Paris der 1860er Jahre: der Bahnhof, das (vermeintliche) Grand Hotel, das Cafe - alles Orte, an denen das moderne Leben in der Metropole stattfand. „Pariser Leben" hat mit seiner Aktualität einen Sonderstatus in Offenbachs Oeuvre. Er wollte aber sicher seiner Epoche kein Denkmal setzen, sondern eher einen lebendig­ironischen Kommentar zu seiner Gegenwart liefern.

GH: Offenbach war ein Meister der Parodie und der Karikatur. Konnten seine Zeitgenossen in der Epoche des Second Empire relativ leicht entschlüsseln, auf wen oder was mit der jeweiligen Bühnenfigur angespielt wurde, so fehlt uns heute aus der historischen Distanz häufig der konkrete Bezug. Was macht, fast 150 Jahre nach der UA, die Vitalität des Werkes aus?

UP: Theater ist immer auch ein Stück weit kollektives Gedächtnis einer Gesellschaft. Als Regisseur finde ich es spannend, eine historische Epoche zu besuchen und erfahrbar zu machen. Dabei stellen sich die Fragen: Was hat sich verändert? Was nicht? Gerade in „Pariser Leben", das in der Zeit entstand, als sich unsere moderne Gesellschaft formierte, treffen wir dabei auf Themen, die immer noch aktuell sind. So blühte im Paris der 1860er Jahre der Finanzkapitalismus, Geld verdrängte zusehends die Undurchlässigkeit der Standesschranken. Auch der Tourismus und das damit verbundene „Übers-Ohr-Hauen" des Reisenden, sind uns heute nicht fremd: „Souverän ist, wer selbst entscheidet, worauf er hereinfallen will" - die Worte Sloterdijks treffen auch auf einen Baron de Gondremark zu. Insofern wäre es sicherlich auch sehr schlüssig, „Pariser Leben" in unsere Gegenwart zu übertragen. Ich fand es jedoch reizvoller, das Stück im historischen Kostüm der erotischen, wirtschaftlichen und kulturellen Weltmetropole des 19. Jahrhunderts zu spielen und dem Publikum die Dechiffrierung der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst zu überlassen.

GH: Wie nähert man sich als Regisseur einem Werk wie „Pariser Leben"? Steht hier die Show, der Revuecharakter der Operette im Mittelpunkt? Oder sind die Figuren auf der Bühne in ihren Handlungen auch erfühl- und erlebbar?

UP: Ich gehe bei Offenbach zunächst vom Text, vom gesprochenen Dialog aus. Für mich sind seine Stücke Schauspiele mit Musik, die Libretti stehen in der Tradition der französischen Komödie von Georges Feydeau und Eugene Labiche. Zu diesem Text kommt nun, gewissermaßen als „Sahnehäubchen", die Musik von Offenbach. Sie vermag es, die realistischen Vorgänge auf der Bühne zu überhöhen und schafft so eine Ebene für die turbulente Absurdität der Handlung. Als Mischung aus Boulevardkomödie und musikalischer Farce bekommt das Stück ein rasantes Tempo. Von der Ouvertüre an heißt es: „Anschnallen!", und erst nach dem letzten Finale gibt es für das Publikum ein Durchatmen nach dieser musikalischen Achterbahnfahrt. Offenbach komponiert den Klang seiner Zeit - einer Zeit der Technisierung und der damit verbundenen rasanten Beschleunigung.

GH: Nietzsche nannte Offenbach ein Genie - ein größeres als Wagner, was wohl als kleiner Seitenhieb auf seinen „Lieblingsfeind" zu verstehen war. Wenn wir uns dieser Meinung anschließen: Wieso konnte sich Offenbach, abgesehen von seinem Orpheus", mit den meisten seiner Operetten außerhalb Frankreichs, vor allem auch in Deutschland, nicht im Kernrepertoire der Theater etablieren?

UP: Wir haben in Deutschland und Österreich eine Operettentradition jenseits von Offenbach, die vor allem in der Tradition von Johann Strauss und Franz Lehar steht und bisweilen zu einem eher sentimental­melancholischen Charakter neigt. Offenbach schrieb Opernpersiflagen, und die haben es bisweilen schwer bei den deutschen Theaterbesuchern: für das Opernpublikum ist das Etikett „Operette" abschreckend, während das klassische Operettenpublikum bisweilen Schwierigkeiten mit dem Opernhaften und wohl auch mit dem subversiven Charakter der Werke Offenbachs hat. Meines Erachtens liegt das Problem jedoch auf jeden Fall bei der Rezeption und nicht bei den Stücken selber. Offenbachs Operetten sind Meisterwerke, die dem Zuschauer und -hörer amüsante und kurzweilige Theaterabende bescheren. Für mich als Regisseur ist es meine erste Offenbach-Operette. Habe ich mich vorher vor Offenbach verbeugt, so knie ich jetzt vor ihm!