ULRICH PETERS IM GESPRÄCH ÜBER HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN

Margrit Poremba: Jacques Offenbach war ein großer Verehrer des romantischen Dichters E.T.A. Hoffmann, der in seinen phantastischen Geschichten Dämonie und Albtraumszenarien, die unter der Maske des Bürgertums verborgen sind, enthüllte. Der bereits vom Tod gezeichnete, jedoch fieberhaft nach einem Text für eine große Oper suchende Offenbach, erinnerte sich im Jahre 1877 an das Drama LES CONTES FANTASTIQUE D’HOFFMANN des französischen Autorenpaares Jules Barbier und Michel Carré, in dem einige Erzählungen (siehe Seite 20) des in Frankreich äußerst populären Dichters verarbeitet wurden. Offenbach hatte das Schauspiel 1851 gesehen, inzwischen war es von Jules Barbier zu einem Opernlibretto umgearbeitet worden. Herr Peters, wo liegt für Sie der Kern der Geschichte?

Ulrich Peters: Zunächst einmal ist mir wichtig, dass die Oper HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN heißt, sie also nichts mit der Biographie des romantischen Dichters, Malers und Komponisten E.T.A. Hoffmann zu tun hat. Meiner Meinung nach  haben sich Offenbach und der Librettist vor allem für das Thema interessiert, wie ein Mensch mit besonderen Begabungen letztlich zum Künstler wird. Und sie zeigen einen schwierigen, steinigen, bitteren Weg, auf dem unser Künstler Hoffmann emotional einmal quasi durch die Hölle geschickt wird. Auf diesem Weg wird er von der Muse der Dichtkunst begleitet, die ihn beschützt, ihn aber auch vielfach bittere Erfahrungen machen lässt. In den eigentlichen Erzählungen, die für Hoffmanns Freunde in einer Kneipe entstehen, vermischt der Dichter Biographisches und Erfundenes zu drei großartigen düsteren Erzählungen, die dann der Ritterschlag zum großen Dichter sind.

M.P.: Die Muse tritt zu Beginn der Oper auf und verkleidet sich in den »treuen Gefährten Nicklausse«, um Hoffmann auf seinem Weg zu begleiten. Eine sonderbare Konstellation…

U.P.: Ja, aber eine sehr konsequente, und hier liegt das Geniale dieser Oper. Die Muse sagt zu Beginn, sie liebe diesen verrückten und undankbaren Hoffmann, ohne ihre Hilfe zerbräche sein Herz und seine geniale Seele an der Grausamkeit der Welt und der Frauen. Heute, in dieser Schicksalsstunde muss sich Hoffmann entscheiden, zwischen der Liebe zu einer Frau – stellvertretend für die bürgerliche Existenz – und der Liebe zur Muse. Heute muss er sich – so die Hoffnung der Muse – von der bürgerlichen Welt abwenden und ganz Künstler, Dichter werden und damit ihr gehören. Durch einen besonderen Kunstgriff, verschwimmen dem auftretenden Hoffmann in der Folge Realität und Fiktion und er beginnt scheinbar aus seinem Leben zu erzählen. Die Erzählungen sind jedoch vor allem Dichtung, die ihren Kern in der Biographie des Dichters hat, jedoch ins Phantastische überhöht wird.

M.P.: Dieser Gedanke wird im Theaterstück sehr deutlich, wenn Barbier/Carré die Muse sagen lassen: »DEINE MACHT UND DEINE KRAFT LIEGEN IN DEINEM GEISTE! HÖR‘ AUF, EIN MENSCH ZU SEIN, HOFFMANN! SEI EIN DICHTER!« Eigentlich eine grausame, ja brutale Forderung der Muse.

U.P.: Ja und nein. Ich glaube, dass wirklich große Kunst nur so entstehen kann. Sie bedeutet Verzicht und wird unter Schmerzen geboren. Der Künstler steht immer zumindest am Rande, wenn nicht außerhalb der Gesellschaft. Und früher haben die Leute die Wäsche reingenommen, wenn Schauspieler in eine Stadt kamen. Hier hat sich nichts geändert. Auch heute werden Künstler häufig skeptisch beäugt. Vielen gilt Kunst als unnötiger Schnickschnack, den die Gesellschaft nicht  braucht. Und wenn ein Politiker im Interview mit Fritz J. Raddatz in der ZEIT stolz verkündet, er habe mit Kultur nichts am Hut und sei noch nie in einer Oper gewesen, ist jeder Kommentar überflüssig.

M.P.: Kunst wird unter Schmerzen geboren? Wie zeigt sich das in unserer Oper?

U.P.: Jede einzelne der 3 Geschichten endet mit Zerstörung und Untergang. Jedes Mal versucht der fiktive Hoffmann, eine bürgerliche Existenz aufzubauen (er verliebt sich, will heiraten) und jeder der Versuche endet in einem Desaster, am Ende wird er gar zum Mörder. Biographie verschränkt sich mit Phantasie und große Kunst entsteht. Denn letztlich kann, so Hugo von Hofmannsthal, der Künstler über nichts berichten, als über sich selbst. Ein Dichter, ein Schriftsteller braucht Stoffe, Themen, und die muss er in sich selbst finden und aus sich selbst heraus schaffen. Alle Dichtung trägt autobiographische Züge. Sie entsteht aus einer Sehnsucht, die der Künstler in sich trägt und die ihn zwingt, das Werk zu schaffen. Dieses »Phantom« der Sehnsucht, aus dem Kunstäußerungen »gewebt« sind, entzündet sich  zwar an der Realität, ist aber nicht deckungsgleich mit ihr. In der dritten Erzählung der Oper erkennt unser Dichter endlich den Zusammenhang von Schmerz und Kunst. Er erkennt, dass die verschiedenen Frauen (in diesem Fall die Kurtisane Giulietta) ihm das, was er zum künstlerischen Schaffen braucht, seine Seele, sein Herz und sein Blut, ja sogar sein Spiegelbild nehmen wollen. So gibt er sich verzweifelt, aber endgültig in die Hände der Muse. In einer großen Schlussapotheose raten ihm die Stimmen in seinem Kopf, seinen Schmerz zu vergessen, der bürgerlichen Welt zu entsagen (in diesem Fall seine aktuelle Geliebte Stella zu vergessen) und seinen Traum zu erfüllen. Die Muse rät ihm, die Asche seines Herzens durch seine Genialität wieder zu entzünden und bietet ihm an, seine Schmerzen zu lindern. Hoffmann stimmt ihr schließlich zu, dass die Liebe groß ist, große Kunst aber nur unter Tränen entstehen kann. Er ist zum Dichter geworden.

M.P.: Gibt es ein literarisches Vorbild für die Gestalt der Muse?

U.P.: Ja, das ist die Muse aus Alfred de Mussets 1835 und 1837 publizierten Gedichtzyklus LES NUITS, quasi einem Dialog zwischen dem Dichter und der Muse. Entstanden sind diese atemberaubenden Verse voller Weltschmerz, um eine bittere private Erfahrung zu verarbeiten. Musset hatte 1833 die sechs Jahre ältere Romanautorin George Sand kennengelernt und begann mit ihr ein romantisch-leidenschaftliches Liebesverhältnis. Das endete jedoch schon recht bald auf einer gemeinsamen Italienreise. Die tiefe Krise, die das bei Musset auslöste, inspirierte ihn zu LES NUITS. Die Verse beschreiben unter anderem einen Leidenden, der sich in seine eigenen Schmerzen vergraben hat. Die Muse – wenn man so will: sein künstlerisches Gewissen – bäumt sich dagegen auf. Der Schmerz soll sein Schaffen veredeln. Sein »Schmerz« gehört nicht mehr ihm persönlich, sondern der Kunst, bzw. den Menschen, die durch seine Kunst eine Bereicherung erfahren. Das Autorenteam Barbier / Carré hat der Opern-Muse – manchmal bis in den Wortlaut hinein – Sätze der Mussetsche Muse in den Mund gelegt.

M.P.: Die Oper ist ja Fragment geblieben. Sie hat im Laufe der Zeit etliche Deformationen und Verzerrungen über sich ergehen lassen müssen. Und in ihren unzähligen Fassungen offenbart sich – ironischerweise darin das Fragment als ästhetisches Ideal der Romantik bestätigend – schlussendlich eine für immer »Fassungslose«. Offenbach hatte 1876 vereinbart, die Oper mit Rezitativen für das Théâtre-Lyrique zu komponieren. Als eine Allegorie, sollte das Werk mit einer Apotheose schließen. Das Theater ging Pleite und so wurde die Uraufführung an die Opéra-Comique vergeben. Der Tradition dieses Hauses gemäß, wurden die Rezitative daher in Prosa-Dialoge zurückverwandelt (die in den heutigen Ausgaben zu findenden Rezitative stammen von Ernest Guiraud). Unserer Münsterschen Aufführung liegt nun die den neuesten Forschungsstand wiedergebende (erst 1998 gelang es Jean-Christophe Keck, das Finale des Giulietta-Aktes auf einer Pariser Auktion zu erwerben) Kaye-Keck-Edition zugrunde. Trotzdem wird man nie wissen, für welchen Schluss, für welche Musiknummer sich Offenbach im 5. Akt entschieden hätte: für die verfeinerte Künstler-Apotheose oder für das ebenso frivole wie verzweifelte Klein-Zack.

U.P.: Nein, die CONTES sind unter diesem Aspekt für immer »perdus«, also verloren. Wie man das Ende der Oper gestaltet, hängt von der jeweiligen Position, dem jeweiligen Blickwinkel des Regisseurs ab. Für mich war allerdings das Ende immer völlig klar. Wir Künstler bezahlen oft genug mit Schmerzen für das, was wir tun. Die Meisten von uns verzichten auf ein geregeltes Leben und führen oft eine prekäre Existenz mit unglaublich vielen Unsicherheiten und Unwägbarkeiten, die sich viele, vom Sicherheitsbedürfnis bestimmte »normale« Menschen gar nicht vorstellen können.

Dem Publikum aber bleibt es überlassen, den Schluss zu akzeptieren oder kritisch zu betrachten. Das Ende der CONTES D’HOFFMANN ist in diesem Sinne offen.