„CARMEN LÄSST DAS LICHT AN."
Gespräch zwischen Regisseur Ulrich Peters und Dramaturg Michael A. Sauter

Sauter
: Die Zeile „L'amour est un oiseau rebelle" ist vermutlich das bekannteste Zitat des Librettos ... Geht es aber wirklich um Liebe in Carmen? Ich habe das Gefühl, keiner der Beteiligten weiß wirk­lich, was mit Liebe gemeint ist ... Und so, wie Carmen von Liebe singt, kann es Liebe als gelebte Beziehung ja gar nicht geben...
Peters: Ja, alle vier Protagonisten, also Carmen, Don Jose, Micaela und Escamillo verstehen unter diesem Begriff etwas völlig anderes. Daraus entsteht eben die Spannung der Oper. Hier prallen vier elementar verschiedene Dinge aufeinander. Carmen kann ihr Liebesbekenntnis an Escamillo gegen Ende der Oper nur so stark formulieren, weil sie weiß, dass sie sterben wird, denn an die Weissagung der Karten glaubt sie unbedingt. Carmen hilft ihrem Tod nach, sie sucht ihn geradezu, fast wie eine Selbst­mörderin. Sie kann nur in Freiheit lieben. Der Tod ist ihr Ausweg aus einem Dilemma. Denn Don Jose und auch Escamillo wollen sie einengen, sie besitzen. Das passt nicht zu ihr. Der Tod rettet sie vor einer bewussten Entscheidung. Dass Liebe und Beziehung auch etwas damit zu tun haben, einen Kompromiss eingehen zu kön­nen, das sieht sie nicht oder will sie nicht sehen. Sie lebt eigentlich in einer Art Traumwelt, beispielsweise wenn sie singt, dass sie mit Don Jose davonreiten will! Mit wem könnte sie schon eine solche Beziehung leben? Übrigens, ihre Kompromisslosigkeit und der Gang ihrer Geschichte scheint mir auch ein sehr aktueller Kom­mentar zu manchen Emanzipationsbestrebungen in heutigen Beziehungen zu sein.
Sauter: Hat Don Jose denn nicht einen Anspruch darauf, von Carmen für ihr Verhalten eine Erklärung zu bekommen, statt von ihr brüsk abgewiesen zu werden? Schließlich hat er viel für sie getan, er riskiert viel mehr als sie. Am Ende der Oper ist sein Leben ein einziger Scherbenhaufen, er hat alles verloren, muss aber weiterleben.
Peters: Ich denke, Carmen sieht das anders. Sie verstößt Don Jose erst, als er, statt mit ihr das Fest der Liebe zu feiern, lieber in die Kaserne zurückwill, die Pflicht also über die Liebe stellt. Sie lässt zu, dass Don Jose alles opfert, fühlt sich dadurch aber nicht zur Liebe oder zur Beziehung verpflichtet. Sie will ohne ein „Muss“ lieben, während Don Jose Ansprüche an sie ableitet. Genau gegen dieses bürgerliche Besitz­denken, diese bürgerliche Attitüde, rebelliert Carmen aber. Ich persönlich kann beide Verhaltensweisen gut nachvollziehen.
Sauter: Mir scheint es, dass Carmen ein Stück weit Don Jose einfach benutzt, um freizukommen, als sie ins Gefängnis muss. Und irgendwann ist er ihr dann lästig und sie muss ihn wieder loswer­den ...
Peters: Das sehe ich anders. Carmen hat - vielleicht zum ersten Mal - selbst einen Mann ausgewählt, nachdem sie bislang immer von den Männern ausgewählt wurde. An Don Jose reizt sie seine Andersartigkeit, auch seine Naivität, er ist etwas Besonderes für sie. Sie könnte auch anders freikommen, wenn sie die anderen Soldaten nicht provozieren würde. Sie provoziert aber, um Don Jose zu beweisen, dass sie ihn ausgewählt hat.
Sauter: Ich denke, neben Carmen und Micaela gibt es eine dritte genauso wichtige, aber nicht präsente Frau in dieser Oper, nämlich die Mutter Don Joses - ein Vater wird ja erst gar nicht erwähnt. Don Joses Verhal­ten wirkt etwas pubertär, seine Reaktionen allein auf die Erwäh­nung der Mutter sind sehr stark,wie ein Mutterkomplex ...
Peters: Ja, das könnte sein. Er wurde vermutlich von seiner Mutter allein erzogen. Die Mutter steht für ihn für das Bewahrende, und das erfährt in Micaela seine Fortsetzung. Carmen ist der Gegenent­wurf zu dieser „mütterlichen“ Welt. Aber Don Jose ist kein Nor­man Bates.
Sauter: Kann man denn Carmen und Micaela wirklich als alternative Partnerinnen für Don Jose ansehen? Schließlich ist Micaela so etwas wie seine Schwester und an Carmen fasziniert ihre Unerreichbarkeit... Beide Alternativen erscheinen mir so unrealistisch.
Peters: Micaela wäre durchaus eine mögliche Frau für ihn. Sie ist so etwas wie eine „Vorzeige-Schwiegertochter“, aus der gleichen bürgerlichen Welt wie Don Jose. Dass sie quasi zur Familie gehört, macht das nur besser. Es bleibt sozusagen alles in der Familie. Micaela will bewusst nicht weg von der Mutter. Und unbewusst instrumentalisiert sie sie sogar, um Don Jose zurück­zubekommen.  Don Jose muss sich letztendlich entscheiden zwischen dem Bürgerlichen, - der Familie -, oder dem Abenteuer.
Sauter: Haben Don Jose und Carmen jemals eine Liebesnacht?
Peters: Ich glaube nicht. Sie vereinigen sich ja auch musikalisch nie. Micaela wäre eine Frau, die in der Liebesnacht das Licht ausmacht, während Carmen es mit Sicherheit anlässt. Und das wäre Don Jose vermutlich unheimlich. Don Jose ist eine männliche Jungfrau.
Sauter: Man hat Bizet Wagnerismus vorgeworfen, hauptsächlich natürlich wegen der musikalischen Struktur der Oper. Aber the­matisch scheint mir auch etwas Wagner enthalten zu sein, näm­lich im Dualismus Heilige - Hure, also Micaela und Carmen, fast wie bei den beiden Frauenfiguren Venus und Elisabeth im „Tannhäuser".
Peters: Parallelen zu Wagner sind bestimmt zu sehen. Musikalisch etwa in der Verwendung der Motivtechnik. Eine the­matische Verwandtschaft gibt es auch in der Gegenüberstellung der beiden Frauen, aber mit dem großen Unterschied, dass Car­men eben keine Hure ist und Micaela keine Heilige. Sie sind keine Extremfiguren, deshalb braucht es auch keinen „Erlösungs­schluss“ wie bei Wagner. Bizet und seine Librettisten zeigen keine Symbolwelt, sondern eine sehr konkrete, kleinbürgerliche und proletarische Welt. Das ist eher Verismo als Wagner und ermöglicht so die Einfühlung des Publikums.
Sauter: Ein französi­scher Komponist schreibt mit Librettisten, die viel mit Operetten zu tun hatten, eine Oper, die in Spanien spielt, in französischer Sprache ... Das Libretto ist voller Klischees: die rassige Zigeunerin, der mutige Stierkämpfer, die dummen Soldaten, der mutige Torero, der schwache Liebhaber ... Das alles scheint mir nicht sehr „veristisch", sondern vielmehr eine Maskerade zu sein, ein Mittel, dem sich viele Komponisten und Librettisten bedienten wie etwa Gounod, Verdi oder auch Donizetti, die einige „Szenen einer Ehe“ schrieben, auch wenn sie - quasi „maskiert“ - etwa an Königs­höfen spielten, um so Vorstellungen von Ehe, Liebe und Sexualität der damaligen Zeit zu reflektieren.

Peters: Wenn man so will, ist „Carmen“ natürlich auch eine Art Ideendrama, das vor der Folie der exotisch anmutenden Zigeunerwelt spielt, die zu Bizets Zeit sehr beliebt war. Im Prinzip sind Zeit und Ort der Handlung nicht wichtig. Wichtig sind vier Menschen mit ihren jeweils sehr unter­schiedlichen Blickrichtungen und Verhaltensweisen. Diese vier müssen sich emanzipieren. Das bewahrt auch der Oper bis heute ihre Aktualität.
Sauter: Die vier Personen begegnen uns dann wieder in „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“...
Peters: „Carmen“ wurde ja auch für das eher bürgerliche Publikum der Pariser Opera Comique geschrieben, nicht für die Grande Opera. Bizet befriedigt so beides: den Wunsch nach Exotik und das Reflektionsbedürfnis seines Publikums. Und wenn Sie Donizetti erwähnen... Ich sehe eine gewisse Verwandtschaft zwischen Carmen und Lucia. Beide gehen, bei allen Unterschieden, bewusst ihren Weg, und gehen erhobenen Hauptes unter. Lucias Tat wäre auch für Carmen möglich.
Sauter: Und Carmen erscheint in Ihrer Inszenierung am Ende weiß gekleidet, wie meist auch Lucia... In Verdis „Traviata“ sieht eine bürgerliche Gesellschaft einem Zigeunerauftritt zu. Hat nun quasi die maskierte Gesellschaft Verdis ihr abendfüllendes Maskenspiel mit „Carmen“?
Peters: Ja, das verbindet die beiden Werke. Und so erklärt sich vielleicht auch eine gewisse Parallele zwischen dem Konzept der letzten „Traviata“-Inszenierung der Salzburger Festspiele, die ich allerdings erst gesehen habe, als mein Konzept längst stand, auch was die Ausstattung von Christian Floeren angeht. In dieser reduzierten, abstrakten Stierkampfarena findet ein Beziehungs­kampf  wie unter einem Brennglas statt. Alle Figuren sind extrem fokussiert, ausgestellt, bei gleichzeitigem realistischem Spiel, um die Einfühlung des Publikums zu ermöglichen. Daneben zeigen die Realismen der Kostüme und Requisiten: Hier stehen Men­schen, die das sind, was sie behaupten, und gleichzeitig sind sie Archetypen. So archetypisch - oder klischeehaft -, wie ein Stierkampf eben ist.
Sauter: Wie kann man Carmens Tod verstehen? Mir erscheint er etwas sinnlos...
Peters: ... Carmen nicht. Sie hat die heile Welt, die wir anfangs in der Oper vorfinden, kräftig durcheinandergewirbelt und schafft es, eins mit sich selbst zu bleiben, ohne Kompromisse, bis zum Tod.
Sauter: Ähnlich kompro­misslos wie Don Giovanni ... Wären die beiden ein Traumpaar?
Peters: Ja. Beide haben für mich eine ähnliche Monumentalität.
Sauter: Carmens Tod ist aber kein Naturgesetz, sondern eine Erfindung der Autoren und des Komponisten, quasi eine Rache der letztlich männlich dominierten Welt der Oper.
Peters: Ja, eine Frau wie Carmen, darf in dieser Welt nicht weiter leben, denn sie birgt - so will es fast scheinen - für den Mann in „seiner Männerwelt" ein enormes Gefahrenpotential.